Dieter Kraus

Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung


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Aufsatz, erschienen in:

Kirchenasyl. Probleme - Konzepte - Erfahrungen, hrsg. v. Hans-Jürgen Guth & Monika Rappenecker im Auftrag der Kath. Akademie Freiburg, Mössingen: Talheimer 1996, S. 58-79 (Talheimer Sammlung kritisches Wissen. 19)
 

nachstehend daraus Abschnitt E: 'Zusammenfassung in Thesen'

1. Die juristische Beurteilung des Kirchenasyls zeigt, wie eine altehrwürdige weltliche Rechtsfigur in der Form zwar untergegangen ist, in der Sache aber in den grundrechtlichen Gewährleistungen des modernen Verfassungsstaates fortlebt. An die Stelle der früheren institutionellen Betrachtungsweise (Kirchenasyl als Rechtsinstitut) ist dabei heute eine personale, grundrechtsbezogene Betrachtungsweise (Kirchenasyl als Religionsausübung) getreten.

2. In den grundrechtlichen Gewährleistungen des modernen Verfassungsstaates sind eine Reihe charakteristischer Merkmale des früheren Kirchenasyls in mehr oder weniger veränderter Form erkennbar: Der besondere Schutz des Gotteshauses als 'Heiliger Ort' in der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG, die intercessio der Kirchenasylgewährenden im Petitionsrecht nach Art. 17 GG sowie allen voran der Schutz des religiösen Gewissens in der Religions-, Gewissens- und Kirchenfreiheit nach Artt. 4 & 140 GG.

3. Die zentrale verfassungsrechtliche Verortung des Kirchenasyls in Artt. 4 & 140 GG macht deutlich, daß nur dessen religiös bzw. gewissensmotivierte Gewährung Grundrechtsschutz genießt; politisch begründeter Widerstand gegen das staatliche Asylrecht hingegen kann sich nicht auf diese Normen berufen (und wird sich auch im Rahmen der Art. 20 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 GG nicht durchsetzen).

4. Im Unterschied zum staatlichen Asylrecht, das in Art. 16a GG politisch Verfolgten einen grundrechtskräftigen Asylanspruch gibt, bezieht sich der Grundrechtsschutz des Kirchenasyls nicht auf den Asylbewerber, sondern auf die kirchenasylgewährenden Menschen bzw. Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die staatliche Grundrechtsordnung beurteilt das Kirchenasyl unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des religiösen Gewissens der Bürgerinnen und Bürger bzw. um des kirchlichen Auftrags willen; demgegenüber wurzelt das staatliche Asylrecht in geschichtlichen Erfahrungen und im humanitären Völkerrecht.

5. Die verfassungsrechtliche Bewertung des Kirchenasyls erfordert eine Abwägung der beteiligten Rechtsgüter. Dabei dürfen weder die Religionsfreiheit noch die Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung geringgeschätzt werden. Sofern die Kirchenasyl gewährende Kirchengemeinde neue Tatsachen oder Beweismittel vorbringt und damit den staatlichen Asylbehörden zu einer auch aus staatlicher Sicht besseren Asylentscheidung verhelfen will, ergibt sich eine Pflicht der Behörden, diese Tatsachen und Beweismittel zu prüfen und während der Zeit der Prüfung keine kirchenasylbrechenden Maßnahmen zu ergreifen.

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